Wie erlebt ein Legastheniker seine Legasthenie?

Für Eltern, Lehrer, Trainer ist es nicht leicht, eine Legasthenie nachzuvollziehen. Was passiert, wenn Buchstaben vor den Augen verschwimmen? Wie erlebt ein Legastheniker seine Legasthenie? Was fühlt ein Kind, wenn es vor einem mit Korrekturen übersäten Deutschtest steht, obwohl es Tag und Nacht dafür gelernt hat?

Gerd Schulte-Körne und Katharina Galuschka bezeichnen eine Lese- und/oder Rechtschreibschwäche als „anhaltende und bedeutsame Schwächen im Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens, wenn diese nicht auf das Entwicklungsalter, eine weit unterdurchschnittliche Intelligenz, eine nicht ausreichende Beschulung, unzureichende Beherrschung der Unterrichtssprache, widrige psychosoziale Umstände, unkorrigierte Seh- oder Hörstörungen, neurologische oder psychische Erkrankungen zurückzuführen sind“.*

Was in der Theorie einleuchtet, ist in der Praxis aber nicht immer leicht erfahrbar. Kaum ein/e Lehrer/in und Legasthenietrainer/in kann sich in die Wahrnehmung des Kindes, das er/sie betreut, hineinversetzen. Wie erlebt also ein legasthenes Kind seine Legasthenie? 

Tanzende Buchstaben und Alltagsprobleme

Betroffene Kinder berichten, dass die Buchstaben, die sie zu lesen versuchen, vor den Augen verschwimmen oder zu „tanzen“ beginnen. Flüssiges Lesen ist unter diesen Umständen nicht möglich. Dieses Beispiel zeigt, was gemeint ist. Mitunter kann also die Wahrnehmung dazu führen, dass allein schon eine Voraussetzung für das Lesen fehlt, nämlich das Erkennen von Buchstaben in der richtigen Reihenfolge. 

Die Geschichte „A Day in the Life of a Child with Dyslexia“ zeigt einen Tagesablauf eines Legasthenikers und die Herausforderungen, denen er sich stellen muss:

  • mangelndes Selbstbewusstsein schon am Morgen
  • Abneigung gegen die Schule
  • fehlendes Leseverständnis, Langzeitgedächtnis und fehlender Wortschatz
  • das Zurechtlegen von Strategien, wie man das Lesen und Schreiben vermeiden kann
  • soziale Probleme 
Dumm und faul – kein Spaß am Lernen, Isolation, Selbstaufgabe 

Die Dokumentation mit dem Titel „Dumm und faul? Mein Kind hat Legasthenie“ porträtiert die 12-jährige Helen Uhrmann. Sie ist Legasthenikerin und hat mit den typischen Problemen zu kämpfen: Lernen macht keinen Spaß, weil die Erfolgserlebnisse fehlen. Sie fühlt sich isoliert und wird von anderen verspottet. Schließlich stellt sich der Fatalismus ein, ohnehin nichts zu können. Kindern wie Helen muss man vor allem ihre Stärken wieder bewusst machen. Ein solches Training arbeitet also neben den Lese- und Schreibfähigkeiten auch an der Motivation, der Einstellung und der Entdeckung und Entwicklung vorhandener Fähigkeiten. 

Alle Beispiele zeigen, wie komplex letztlich jede Legasthenie ist und wie individuell auch die Förderung angelegt sein sollte, beispielsweise in einem intensiven Einzeltraining.

 

* Gerd Schulte-Körne, Katharina Galuschka: Lese-/Rechtschreibstörung (LRS). Göttingen 2019, S. 1.